Mit dem „Lied des Monats“ wollen wir zukünftig in loser Folge etwas unbekanntere Lieder aus unserem Gotteslob kennenlernen. Neben einer Textbetrachtung im „Kreuz und quer“ und auf der Internetseite wird das Lied von unseren Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern in den Gottesdiensten musikalisch erschlossen, mit den Gemeinden eingeübt und anschließend auch öfter gesungen.

 

 

Ein für unser Ohr eher ungewöhnliches geistliches Lied wurde mit der Nummer 274 in unser Gotteslob aufgenommen:

„Und suchst du meine Sünde,
flieh ich von dir – zu dir.
Ursprung, in den ich münde,
du fern und nah bei mir.“

Orientalisch wirkt die neue Vertonung des Regensburger Diözesanmusikdirektors Christian Dostal. Schließlich ist der Liedtext ein Gedicht, oder vielleicht eher: ein Gebet des bekannten jüdischen Religionsphilosophen und Publizisten Schalom Ben-Chorin (1913-1999). Der 1935 von Deutschland nach Palästina emigrierte Journalist war ein wichtiger Gestalter des jüdisch-christlichen Dialogs.
Mit seinem Gebet erinnert er an die Worte des spanisch-jüdischen Philosophen Salomon Ibn Gabirol aus dem 11. Jahrhundert: „Und wenn Du mich tötest – ich hoffe auf Dich, / fragst Du nach meiner Schuld – flieh ich von Dir zu Dir / und berge mich vor Dei­nem Zorn in Deinem Schatten.“
Worte, die jährlich zum Versöhnungstag Yom Kippur in der jüdischen Gemeinde rezitiert werden. Schon die Psalmen kennen den Gedanken an die Allgegenwart von Gottes Gnade und Treue. Mit Psalm 139 beten wir: „Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin vor deinem Angesicht fliehen? Wenn ich hinaufstiege zum Himmel – dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt – siehe, da bist du.“

Ähnlich textet auch Ben-Chorin:

Wie ich mich wend und drehe,
geh ich von dir – zu dir;
die Ferne und die Nähe
sind aufgelöset hier.

Überall ist Gott. Jeder Atemzug ist von Ihm geschenkt. Er ist Ursprung und Ziel. Gott umfängt uns ganz. Beruhigend, wohlig und tröstlich ist der Gedanke daran. Doch auch beängstigend und einschüchternd kann dies wirken, wenn ich mir meiner eigenen Sündhaftigkeit bewusst werde. Mein Unvermögen möchte ich schließlich am liebsten verbergen. Vor meinen Mitmenschen, auch vor mir selbst und auch vor Gott. Doch wenn Gott Schöpfer und Retter ist, dann ist er auch der Richter. Es ist Gott nicht egal, was wir aus unserem Leben machen. Seine Gebote sind Ausdruck der Freiheit, die er uns schenkt und das Gericht Ausdruck seiner Liebe zu uns.

Gott sucht auch den sündigen Menschen, denn er möchte ihm die Sünde abnehmen, damit er leben kann. Dass Gott zu mir steht trotz meiner Schuld, ermöglicht es mir, zu meiner Schuld zu stehen. Zur Beichte gehe ich nicht, damit ich verzweifelt nach Hause gehe, sondern weil ich mir den Freispruch erhoffe – und erhoffen darf – damit ich wieder aufrecht der Zukunft begegnen kann. Die Beichte ist ein ernster Vorgang, doch er macht fröhlich.

Von dir – zu dir mein Schreiten,
mein Weg und meine Ruh,
Gericht und Gnad, die beiden,
bist du – und immer du.

Bei aller Ambivalenz in unserem Glauben und unserem Leben: Nähe und Distanz, Bewegung und Ruhe, Schuld und Vergebung, sind wir im Glauben bestärkt, dass Gott da ist und wir ihn ansprechen dürfen. Das Lied endet mit dem Gedanken, dass die Nähe Gottes bleibt: „Bist du – und immer du.“ Das ist der Name Gottes: Ich bin da.

Sebastian Kühn, Kaplan